







Von Marvin Droste
Kray. Auschwitz – für viele Jugendliche und junge Erwachsene ist das eine Worthülse. So fragen sich viele junge Menschen: Ist Auschwitz überhaupt noch ein Thema, das für mich relevant ist?
„Da waren Sie doch noch gar nicht geboren.“
Mehrere Passanten, die von den Azubis gefragt wurden.
Wenn man eine kleine Gruppe der Auszubildenden des Kolpingwerks fragt, wird man auf diese Frage aber nur eine einzige Antwort hören: Ja! Denn die zehn jungen Menschen haben genau das getan, was man eigentlich nicht von ihnen erwartet hätte: sich intensiv mit Auschwitz beschäftigt, größtenteils in ihrer Freizeit und absolut freiwillig, versteht sich.
Im Rahmen des Projektes mit dem Titel „Was hat Auschwitz mit mir zu tun? – eine Ermittlung“ wälzten die Azubis sechs Tage lang Quellentexte, sichteten Bild- und Videomaterial, interviewten Zeitzeugen und Menschen auf der Straße. Dazu kam die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema – tiefes Forschen in der Familiengeschichte durchaus erwünscht.
Ergebnis des Projektes ist ein zwanzigminütiges dokumentarisches Theaterstück.
Unterstützung bekamen die Azubis dabei von Historiker Frank Reiniger und dessen Frau Rieke, ihres Zeichens Theaterregisseurin. Nachfragen, nachforschen, neugierig sein, das war der Auftrag, den die beiden den Azubis mitgaben. Nach wie vor scheint dieses dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte jedoch eher tabuisiert zu werden. „Auschwitz? Da waren Sie doch noch gar nicht geboren.“ Ein Satz, den die Azubis im Rahmen ihrer Interviews mit Passanten in der Innenstadt weit mehr als nur einmal gehört haben.
Genau diese Tabuisierung war ein Grund für den Auszubildenden Dominik Koch, an dem Projekt teilzunehmen: ,,Ich habe die Hoffnung, dass die Leute irgendwann lernen, damit umzugehen.“ Er selbst habe über das Projekt einen Bezug zu dem Thema bekommen, die Geschehnisse seien greifbarer geworden.
Dass Auschwitz außerdem aktueller denn je ist, haben die jungen Menschen ebenfalls festgestellt. „Eigentlich ist es doch das aktuellste Thema überhaupt, wenn man an Pegida oder auch an den IS denkt“, meint Azubi Jan Geldermann. Tatsächlich sei das Projekt auch erst über die aktuellen Geschehnisse ins Leben gerufen worden: ,Wir haben gemerkt, dass hier im Haus Themen wie Pegida oder der NSU polarisieren, aber sich nicht damit auseinandergesetzt wird. Daher haben wir uns gesagt, wir fangen mit der Aufarbeitung bei Auschwitz an, also bei den Wurzeln dieses Übels“, erklärt Michael Endraß vom Kolpingwerk. Für ihn zudem beeindruckend: „Die jungen Menschen haben sich der Thematik immer mehr geöffnet, sie haben eine sehr intensive Zeit erlebt und sind so zusammengewachsen.“
Ein großer Teil der Projektteilnehmer habe im Leben bislang viel Gegenwind erlebt, stamme aus schwierigen sozialen Umfeldern. „Doch sie waren plötzlich offen, ehrlich – und durchaus auch nah am Wasser gebaut, wenn es um die Thematik ging.“
Gemeinsam etwas erarbeiten, auf einer Bühne vor Publikum stehen, als Gruppe zusammenhalten – vielleicht ist es gerade das, was die zehn Azubis neben ihrem neu erworbenen Faktenwissen mitnehmen. Nach der Aufführung des Theaterstücks geht eine Handynummernliste unter den Teilnehmern herum. Aus Zusammenarbeit ist innerhalb von sechs Tagen Freundschaft geworden.

70 Jahre später: Gedenken an
die Befreiung von Auschwitz im
Essener Kolping-Berufsbildungswerk

Massenmord, KZ, Gaskammern, Großeltern“ -diese Worte schallen durch die Aula des Kolping-Berufsbildungswerks (KBBW) in Essen. Es sind Assoziationen von Auszubildenden, die sich in einer Projektwoche mit dem Thema „Auschwitz” beschäftigten. Am Jahrestag der Befreiung des ehemaligen Konzentrationslagers bringen sie Ergebnisse als dokumentarisches Theater auf die Bühne. Es sind Wörter und Begriffe wie diese, die vermutlich den meisten Menschen dazu einfallen, zu denen jeder irgendetwas sagen kann. Aber was ist in Auschwitz eigentlich genau passiert? Und was hat Auschwitz denn mit den eigenen Großeltern zu tun? Womöglich gar mit mir selbst?
Fragen wie diesen gingen zehn der Auszubildenden zwischen 18 und 24 Jahren nach – genau 70 Jahre später. Begleitet wurden sie in der Projektwoche mit dem Thema „Was hat Auschwitz mit mir zu tun -eine Ermittlung?” von der Theaterautorin und Regisseurin Rike Reiniger sowie ihrem Mann, dem Historiker und Pädagogen Frank Reiniger. Das Wissen der jungen Menschen über Auschwitz und den Zweiten Weltkrieg sei eher bruchstückhaft gewesen, sagen die beiden. -Doch ein-mal in die Thematik eingestiegen, habe sie die Vergangenheit nicht mehr losgelassen. „Das Thema hat sie sehr bewegt”, so Rike Reiniger. „Die Auszubildenden recherchierten abends weiter, fragten bei der eigenen Familie nach.” Das spiegelt sich im Doku-Theater, das sie zum Abschluss der Woche zeigen, mit Sätzen wie: „Meine Großmutter durfte nicht mir jüdischen Kindern spielen.” Oder: „Mein Großvater war in Kriegsgefangenschaft und musste jeden Tag Spinat essen. Jeden Tag Spinat.”
„Wir wollten die Auszubildenden für das Thema sensibilisieren”, betont Michael Endraß vom KBBW. Der 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz sei dafür ein guter Anlass gewesen. Nach der inhaltlichen Arbeit und der eigenen Recherche hätten die
Schüler viel Arbeit in Interviews mit zwei Zeitzeugen gesteckt. „Das hat uns am meisten berührt”, sagen die 23-jährige Gina und der 25jährige Kevin David übereinstimmend. Dabei handelte es sich nicht um überlebende des KZs, sondern um einen Mann und eine Frau Jahrgang 28 und 29, die den Krieg in Essen und in Schlesien auf ganz unterschiedliche Weise erlebten. Fragen an sie stellen zu können, etwas von Zeitzeugen direkt zu hören, beeindruckte die jungen Menschen einfach. Während der Essener Züge mit Deportierten sah, die er für Sträflinge hielt, bekam die junge Frau in Schlesien davon gar nichts mit, obwohl sie direkt am Bahndamm wohnte. Von der Hitlerjugend war sie anfänglich sogar begeistert, bis sie später als Katholikin immer häufiger ausgegrenzt wurde.
Greifbare Nähe
Das Gefühl der Ausgrenzung sei etwas gewesen, das auch die jungen Menschen heute kennen. Zum einen wurde ihnen bewusst – so eine der jungen Frauen, die Epileptikerin ist, und einer der jungen Männer, der den Zeugen Jehovas angehört -, wie schnell auch sie im Dritten Reich hätten ausgegrenzt und in ein KZ gebracht werden können. Zum anderen merkten sie, wie oft in ihrem Alltag Menschen ausgegrenzt werden, wie häufig sie selbst schon Ablehnung erfahren hätten. Womit die Frage „Was hat Auschwitz mit mir zu tun?” in greifbare Nähe rückte. „Sie haben toll mitgearbeitet”, sagt Rike Reiniger über die Begeisterungsfähigkeit der Auszubildenden. „Es war kein Problem für sie, über ihre Schwächen zu sprechen.”
Nach vier Tagen intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema, auch mit Filmmaterial und Disskusionrunden, versuchten die Auszubildenden ihre Ergebnisse szenisch zu dokumentieren, ganz authentisch mit ihren eigenen Aussagen und denen der Zeitzeugen. Und vor allem, nachdem sie sich mit dem Stück „Die Ermittlung” des Dramatikers Peter Weiss beschäftigt hatten, ein Stück, das den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963-65 mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters thematisiert und aus dem sie zwei Passagen in ihr eigenes Stück einbauten. Eine der Passagen lässt das Leugnen der später Angeklagten hören, das die jungen Menschen erschreckend und unbegreiflich fanden -und das sie unbedingt in ihr Stück einarbeiten wollten.
Aber sie geben auch den KZ-Häftlingen und den politischen Gegnern eine Stimme. Zum Beispiel dadurch, dass sie Teile ihres Stücks mit dem Lied „Bella Ciao” unterlegen, dem Gesang der italienischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg, und auch durch den eigenen Gesang von „Wir sind die Moorsoldaten”. Ein Lied, das 1933 von Häftlingen des KZs Börgermoor bei Papenburg geschaffen wurde, ein KZ für vorwiegend politische Gegner des Nazi-Regimes. Sehr anschaulich wird das Stück der Schüler auch durch Schattenspiele, die die Szenen darstellen, oder durch die projizierte Erklärung des Wortes Konzentrationslager, die zum Nachdenken anregt über Sinn oder Unsinn verwendeter Begrifflichkeiten.
„Ich habe das Tagebuch der Anne Frank gelesen” – „Ich war in Buchenwald”, klingt es dann auch wieder durch die Aula. Die Sätze verdeutlichen frühere Berührungspunkte mit dem Thema, die durch die Projektwoche vertieft und erweitert wurden.
„Man sollte sich darüber Gedanken machen, was damals passiert ist”, betont Kevin David. Was sie aus der Woche aber ebenso mitnehmen würden, sei es, Menschen eben nicht auszugrenzen, sondern in ihrer persönlichen Art anzunehmen, spricht er für sich und seine Mitschüler.
Würde des Menschen
Und so endet das Doku-Theater mit der Überlegung, wie das Stück denn eigentlich abschließen soll. Mit der National- oder der Europahymne? Finden sich darin alle wieder? Sie überlegen, bis schließlich ein Gemurmel der verstreut stehenden Schauspieler einsetzt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar”, lässt sich daraus entnehmen. Immer deutlicher wird es, immer lauter, bis endlich alle auf der in der Mitte stehenden Bühne zusammenkommen und den Satz gemeinsam sprechen. Ein Satz der heute im Grundgesetz verankert ist. Der in Auschwitz mit Füßen getreten wurde, der immer und jederzeit aktuell ist und sein sollte und den die jungen Menschen als Antwort auf die Frage geben können: „Was hat Auschwitz mit mir zu tun?” Die Würde eines jeden Menschen zu achten – damit Auschwitz nie wieder passiert.
Ulrike Beckmann
